Das Unsichtbare sichtbar machen
Auf dieses Date hatte ich mich lange und generalstabsmäßig vorbereitet. Ich erwartete sie in meiner Wohnung.
Aber was soll sie eigentlich hier? Der Boden war bereits geputzt, das Geschirr auch schon weggeräumt und selbst der Ausguss des Waschbeckens glänzte von der Edelstahlpflege. Und die Mehrwegzahnstocher hatte ich auch schon in die Packung zurückgedrückt. Also, was gibt es noch für sie zu tun?
16:00
Der Countdown lief. Nur noch vier Stunden.
Ich hatte meinen alten Plattenspieler vom Speicher geholt, denn Vinyl hatte einfach mehr Flair, CD konnte doch jeder, MP3 war etwas für Technikfreaks und Streaming für die Hipster. Dazu zählte ich mich nicht. Distanz zum Main Stream musste sein. Und gab es etwas Schöneres, als wenn der alte Plattenspieler Debussys „Prélude à l’après midi d’un faune“ aus der Rille kratzte? Ach, der alte Faun! Eigentlich war mir die Platte zu schade für ein Date. Der Radetzkimarsch ging sicher auch. Die Platte hatte ich von meinem Opa mit K&K-Vergangenheit geerbt. Sie lag sowieso gerade obenauf.
16:30
Mir fiel gerade ein, dass der Wein fehlte. Wein! Wein? Welcher Wein? Warum eigentlich Wein? Sollte es nicht besser Champagner oder Prosec- oder wie man das schreibt - sein? Prosec ... Prosac. Wo war der Wein? Dann musste ich doch in den Keller runter. Zwei Etagen oder vierunddreißig endlose Stufen. Und dass alles wegen einer Flasche Lidl Krötenarsch für 1,99. Ach egal. Keller und Wein mussten nun wirklich nicht sein. Wein konnte man auch selbst machen. Hellbraune Flasche Balsamico, etwas Zucker, mit Wasser aufgießen, kräftig umrühren: Wein! Oder etwa nicht? Ich war mir unsicher. Dabei gab es doch Präzedenzfälle, dass mal jemand im Altertum aus religiösen Gründen Wasser in Wein verwandelt hatte.
Die Krombacher Elf tat es auch. Schnell noch eine Flasche öffnen und eine Viagra auflösen. Potenz war schon geil. Da war es nur noch die Krombacher zehn. Sozusagen Rote Karte und ein früher Platzverweis für die erste Flasche.
Diese prickelnde Erotik eines ploppenden Kronenkorkens begleitet durch ein nicht gerade subtiles Uff-Ta-Ta des Radetzkimarschs.
16:45
Bügelt man eigentlich Feinripp?
Stellung „*“ wie Seide?
Aber wie war das noch gleich mit den vierunddreißig Treppenstufen in den Keller?
Es ging auch sicher ohne zu bügeln. Wenn da nicht diese Ketchupflecken gewesen wären. Aber auch dafür gab es eine Lösung: Pinsel raus und ein wenig weiße Latexfarbe drüber. sah aus wie neu.
17:00
Nur noch drei Stunden. Das Bad herrichten. Ich hatte sogar neue Handtücher unten im Schrank gefunden. Hinterlassenschaften meiner Ex-Frau. Ihr Name war noch in großen geschwungenen Lettern eingestickt. Schlecht. Wenn also Latexfarbe gegen Ketchup hilft, dann sicher auch gegen das „H“ von Helene.
17:15
Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Shit. Der FC hatte wieder verloren. Ein böses Omen. Aber war sie nicht sowieso aus Düsseldorf?
Wieso befanden sich nur noch neun Flaschen im Kasten? Gab es zwei Platzverweise?
18:00
Ich schwitzte. Sollte ich noch schnell ein Bad nehmen? Eher nicht. Dann müsste ich die Handtücher meiner Ex benutzen und ich wusste nicht, ob die Latexfarbe schon trocken war. Bin ich nicht sensibel? Lieber ein wenig mehr Deo. Oh. Das Axe war leer. Und nun? Lysterene ging nicht. Ich wusste, dass Mundwasser unter den Achseln brannte. Aber da musste ich ja nicht durch. Eher sie. Es war ein Blind Date und dies bedeutete „nicht sehen“, aber wohl leider nicht „nicht riechen“.
Blind Smell Date.
Ich öffnete das Mundwasser und verreibe dann doch die hellblaue Flüssigkeit großzügig unter den Achseln. Einige Tropfen färbten Schissers Feinripp in einem leichten Bleu. Sollte ich nochmals mit der Latexfarbe ein wenig korrigieren?
Wobei wir gerade beim Öffnen der Flaschen waren: Da waren es nur noch acht.
18:30
Schweißperlen auf der Stirn. Das Schlafzimmer. Wie konnte ich es vergessen? Handschellen zurechtlegen. Aber wo waren die Schlüssel? Ich hatte keine Zeit zum Suchen. Und die Seile, die Knebel, die Augenbi ... Moment, Augenbinde. Also irgendwas musste her: Eine Rolle Alupapier aus der Küchenschublade? Oder schnell zwei Etiketten von den Bierflaschen ablösen.
Bierflaschenetiketten verklebten die Augen nicht und waren mit warmen Wasser leicht wieder ablösbar. Und falls man kein warmes Wasser hat, konnte man … oh Nein! ... dann konnte Frau ja den Rest aus der Bierflasche zum Ablösen nehmen.
Aber nur den Rest!
Und ganz nebenbei … so eine Frau mit Flaschenetikett hatte doch ihren Reiz. So beklebt wird sie gleich doppelt interessant. Animalische
Reize trafen auf das Pavlow'sche Reiz-Reaktions-Schema. Ich hätte die Frau glatt in die Küche geschickt: „Ey, bring noch mal zwei Pils!"
Ich war von meinem feinsinnigen Humor begeistert. Ich sollte irgendwann Geschichten schreiben.
Dazu legte ich Federn und Pinsel zurecht. Für die sanften Momente im Leben. Verdammt! Die Pinsel waren hart von der eingetrockneten Farbe. Dann legte ich eben ein paar Edding Permanentmarker zurecht. Die waren auch schön weich.
19:00
Schummriges Licht wäre nicht schlecht gewesen. Also Birnen rausdrehen. LEDs, 0,5 Watt aus dem Baumarkt rein, ein Küchentuch drüber. Perfekt. Schummrig genug. Nur ging mir der Duft der Tiefkühl-Lasagne nicht mehr aus dem Sinn. Wo lag das Tuch doch gleich? Vielleicht sollte ich doch besser ein anderes Tuch nehmen. Später. Wenn noch Zeit gewesen wäre sollte. Ein paar Tropfen Bier auf das erwärmte Tuch hatten die Gerüche neutralisieren sollen.
Five bottles left.
19:30
Endspurt. Türe angelehnt. Es musste ja einladend sein. Noch einen kleinen, erotischen Snack zurechtstellen. Ich hatte noch Matjes, Sardellen und eine halbe Dose Ravioli im Kühlschrank. Für mich. Ok. Die Ravioli hatten sich erledigt. Der grüne Pelz auf den kleinen Teigtaschen sah nicht einladend aus. Vielleicht ein paar Nutellabrote als Ersatz.
Oh Mann, Nutella in Pils getunkt schmeckte nicht. Hätte ich besser Kölsch nehmen sollen?
Nur noch vier Flaschen.
Was machte ich hier eigentlich. Warum war die Wohnung aufgeräumt? Wieso stand der Biomülleimer nicht am gewohnten Platz unter dem Wohnzimmertisch?
Schnell noch die Kronenkorken vom Tisch eingesammelt und nach hinten in den Biomüll geschnippt. Das Treffen des Ziels mit einem deutlichen Rülpsen feiern. Tat das gut.
20.00
Ein letztes, tiefes Durchatmen. Und warten. Jetzt. Kam sie?
Wie viele Flaschen hatte ich eigentlich noch?
Vier! Ole Ole Ole.... La Ola im Wohnzimmer.
20:30
Warten.
Mir wurde schlecht. Den Finger kurz und tief in den Rachen geschoben.
Und nun konnte es weiter gehen: »Prost, Frau, Frau … ähhhm. Auf den FC!«
21:00
Warten. Fernseher an. Warten.
Drei Mannschaften auf dem Platz. „Oh, warum hatte die dritte Mannschaft nur noch so viele Flaschen... ähem, Spieler mit Pfeife auf dem Platz“
22:00
Zeit für das aktuelle Sportstudio. Ich hatte ja noch zwei Krombacher.
23:00
Das waren noch Zeiten. Früher waren noch 20 Flaschen im Kasten.
Warum hatte meine Ex mich eigentlich verlassen?
Schnell geschrieben und ebenso schnell – mit der Ruhe einer Frau – zu lesen. Das Blind Date aus ihrer Sicht:
00:23
Die Verabredung stand. Ich würde ihn treffen, doch kannte ich ihn noch nicht.
11:00
Was? Blieb noch Zeit für ein schnelles Frühstück im Stehen?
Brötchen geschmiert, Kaffee aus der Senseo gezogen und zurück in das Badezimmer. Brötchen und Kaffee auf die Ablage über das Waschbecken gestellt. Ein schneller Bissen. Ein Schluck Kaffee. Zahnputzbecher gefüllt. Zähne geputzt. Kaffee genippt. In’s Brötchen gebissen. Geschluckt. Zähne weitergeputzt. Lidschatten nachgezogen. Zahnputzwasser getrunken.
Ein Blick in den Spiegel.
Erschrocken.
Fertig.
11:36
Zum Coiffeur des Vertrauens geeilt. Termin bereits telefonisch vereinbart. Zigarette unterwegs in der Straßenbahn geraucht. Rausschmiss!
Warum?
11:39
Auf der Straße gestanden. In der Handtasche nach dem Handy gesucht. Dann ein Taxi gerufen. Zum Frisör gefahren.
11:47
In der Handtasche nach Geld für den Taxifahrer gesucht. Hierbei das Handy gefunden und die Zigaretten verloren. Dafür aber ein weiteres Feuerzeug in der leeren Tamponpackung entdeckt.
11:49
Beim Frisör in den Spiegel geschaut.
Erschrocken und geschrien: »Mach was dran, Roger! Ich muss heute Abend gut aussehen.«
Nervös herumgesessen. Mit den Fingern auf der Lehne des Stuhls getrommelt. An einer Latte Macchiato genippt. Seite 7 der Brigitte gelesen. Einen Blick in das Horror-Skop geworfen. Düster.
11:51
In der Handtasche gewühlt. Geld nicht gefunden und Roger auch nicht bezahlt. Dabei aber einen unerwarteten Fund gemacht: Kondome mit Erdbeergeschmack. Pfui. Von wem waren die noch gleich: Harry? Willi? Bernd? Lutz, der sich Lisa nennt? Oder doch der Wie-hieß-er-noch-gleich?
Ich hasste Kunst-Erdbeer am Männerschwanz.
11:52
Roger verzweifelte Blicke zugeworfen.
»Schreib es an. Ich hab’s eilig.«
Laden verlassen, mit den Heels im Gullideckel hängen geblieben. Geflucht. Wirklich geflucht. Die Stadtentwicklungsgesellschaft, das Straßenbauamt, den Bürgermeister und den Magistrat in die Hölle gewünscht. Ich wollte alle verklagen.
Schnell zu Ali gerannt. Der Schnellreparaturdienst für Schuhe. Anschließend mit einem Schuh zum Bäcker nebenan gehüpft, denn ganz ohne Schuhe verlässt Frau nie das Haus. Ein Croissant bestellt.
In der Handtasche nach Kleingeld gesucht und ... gefunden.
»Verzeihen sie, Gnädigste. Wir nehmen seit 2001 keine D-Mark mehr.«
Aber?
Wie alt war diese Handtasche?
Hungrig und mit tausend Flüchen auf den Lippen die Frisör-Hütte verlassen. Roger die Pest an den Hals und die Syphilis an den Schwanz gewünscht.
11:54
Zurück zu Ali. Schuhe abgeholt und mich über die schlampige Arbeit beschwert. Die Bezahlung verweigert. Ali war froh, dass ich ging, ohne den Laden zu zerlegen.
12:36
In der Handtasche ... ich wiederholte mich.
Haustürschlüssel gesucht und Vibrator gefunden. Das leise Surren verriet ihn unter den Briefumschlägen mit den Kontoauszügen. Wie lange mochten Duracell Batterien wohl halten?
12:38
Wieder zu Haus. Tief eingeatmet.
12:39
Ausgeatmet.
12:42
Mit der besten Freunden fünf Minuten am Telefon geplaudert. Die Welt verflucht.
»Ja, ich treffe ihn heute Abend.«
»Ja, ich werde pünktlich sein. 20:00.«
Männer. Idioten. Haben nur Sex im Kopf.
In der Handtasche gekramt. Handtasche gewechselt.
13:41
Fünf Minuten waren um. Telefonat beendet. Der Handyakku war leer.
13:42
In der Handtasche nach Zigaretten gesucht. Das neue Feuerzeug – das wiedergefundene – benutzt. Eine letzte Kippe in drei Teilen in der Tamponpackung gesehen. Tampons auf dem Tisch ausgeschüttet. Zigarette zerlegt, neu gedreht und angezündet.
Einen Schreikrampf bekommen. Seit wann haben Zigaretten blassblaue Fädchen?
14:00
Mittagsschlaf zum Wohle der Schönheit.
14:32
Tiefschlafphase. Auch zum Wohle der Schönheit.
17:00
Aufgewacht. Auf die Uhr geschaut: 14:00.
Im Unterbewusstsein realisiert, dass der Sekundenzeiger der Uhr sich nicht bewegte. Dem Zeiger keine Beachtung geschenkt. Die Uhr hatte ja noch zwei weitere Zeiger.
17:30
Unter die Dusche. Ahhh. Nun ist die Frisur nass geworden.
Raus aus der Dusche. Abgetrocknet.
17:45
Zurück in’s Schlafzimmer. In der Truhe gewühlt. Dessous rausgelegt, zwecks späterer Entscheidung in schwarz, rot und grün.
Strümpfe gesucht. Mit Naht. Aber auch mit Laufmasche. Strümpfe in die Tonne getreten und nach neuen Strümpfen – in der Handtasche – gesucht. Und Söckchen gefunden. Geht nicht.
Also keine Strümpfe.
17:53
Vor den Kleiderschrank getreten und sämtlichen Mut zusammengefasst. Adrenalin pur, als ich die Türen öffnete.
17:58
Realisiert, dass ich nichts Passendes für den Abend zum Anziehen hatte.
An die Handtasche gedacht, aber den Wunsch darin zu suchen verworfen.
18:03
Ich hielt die Türen des Schranks offen.
18:09
Die Vorbereitungsphase der Entscheidungsfindung naht. Ich hatte drei Kleider herausgelegt. Kurz, kürzer und … Moment. Das dritte war mein Schlaf-Shirt. Also wieder rein damit.
18:12
Vertagung der Entscheidungsfindung für die Dauer einer Zigarette.
In der Handtasche … naaaa?
In der Handtasche gewühlt. Zigaretten wieder nicht gefunden, nur den Werbekugelschreiber der FDP. Taugt nichts. Er ist ausgelaufen und die blaue Farbe klebt an meinen Fingern wie Lindner an der Macht.
18:37
Meine Uhr zeigte noch immer 14:00. Also noch genug Zeit für die Entscheidung. Deutschland sucht das Superkleid.
Ich nahm Jeans! Da brauchte ich keine Strümpfe.
18:48
Mein Parfum gesucht. In …. Im Badezimmer. Aber nicht gefunden. Dann war es wohl doch in der Handtasche. Oder in einer anderen Handtasche.
Gefunden. Der Flakon war leer!
19:14
Die richtige Uhrzeit realisiert.
Geschrien!
Nochmals geschrien.
Keiner hörte mich.
Nicht mehr geschrien. Ohne Publikum musste man nicht schreien.
19:24
Taxi gerufen. Handtasche vom Sofa genommen. Rausgerannt.
19:36
Die große Uhr an der gegenüberliegenden Tankstelle gesehen, während ich auf das Taxi wartete.
Montag, 3. Oktober, 19:36
Montag? Wieso Montag? Nicht Sonntag.
Den Taxifahrer verflucht. Wieder hoch in die Wohnung gerannt. Eine Flasche Sekt geöffnet und ein Blind Date mit meinem Vibrator gehabt. Duracell sei Dank.
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