Nach dem letzten Song
Die Bühne war leer. Die Lichter erloschen. Das letzte Konzert soeben gespielt.
Kaltes Neonlicht durchdrang den kalten Rauch im Saal. Ein alter Mann kehrte gebeugt vor Gicht zertretene Bierbecher vom nassklebrigen Boden. Seine lethargischen Bewegungen zeugten von der abgestumpften Sicht auf diesen Saal, der seine Welt seit dreißig Jahren war.
Der Musiker warf einen letzten Blick auf diese Szene. Sein Konzert war vergangen wie viele andere zuvor. Er nahm seine Gitarre und legte seine Gefühle zurück in den von Aufklebern aus aller Welt überdeckten Gitarrenkoffer.
Wieder hatten fremde Menschen zum melancholisch-frischem Blues des Musikers getanzt und waren drei Stunden in seiner Welt. Männer folgten seinen Fingerfertigkeiten mit Ehrfurcht. Frauen hingegen sahen seine graubraungrünen Augen. Aber allen war eines gemein, während sie seine Musik hörten: Sie sahen nur seine Maske, die nie fiel.
Nachdem er aus dem Rampenlicht getreten war und ihn wieder die Dunkelheit umfing, war es an der Zeit, die Maske heimlich und ungesehen abzunehmen. Er nahm den rückseitigen Ausgang und trat hinaus in den Regen. Er spürte die Kälte, während die Nässe über sein Gesicht rann. Regentropfen ersetzten auf seinen Wangen die Tränen, die nie jemand gesehen hatte, weil er nicht weinen konnte.
Seine lautlosen Schreie verhallten ungehört in der engen dunklen Gasse. Ebenso unhörbar wie seine Schreie folgte das lautlose Echo.
Nur das leise Prasseln der Regentropfen auf dem Kopfsteinpflaster schlug in aller Gleichgültigkeit einen unrhythmischen Takt zum Schlag seines Herzens.
Aber noch war er stark genug und Herr seiner Sinne; noch hinlänglich kontrolliert, um die Gitarre schnell in seinem alten Kombi zu verstauen.
Er stieg in sein Auto. Es war ihm nicht mehr nach Schreien. Die Tränen blieben aus. Stattdessen summte er nun den alten Clapton Song, mit dem sein Konzert üblicherweise endete …
„Do you know my name, if I see you in heaven …“
Er versuchte das Vehikel zu starten. Nur die Regentropfen hämmerten weiterhin emotionslos ihren Takt auf dem Dach des Autos. Das Geräusch eine laufenden Motors, auf das er wartete, blieb aus.
Langsam stieg er wieder aus dem unnützen Auto.
Er stand abermals neben seinem Wagen und musste erneut die Tropfen an seinem Gesicht herablaufen lassen, während er das nutzlose Gefährt verschloss.
Aber er hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders ist. Der Regen fühlte sich nur noch nass, aber nicht mehr kalt an. Er registrierte diesen Wandel, ohne zu wissen, ob es wirklich eine Veränderung oder lediglich die Gewöhnung war.
Um besser sehen zu können, wischte er mit dem Handrücken die Nässe beiseite, die sich sogleich den Weg hinunter am Halse in seinen Kragen bahnte.
Seine Wahrnehmungen wurden intensiver. Seine Antennen waren nun aufmerksam in den Regen gerichtet, abgestimmt auf die Frequenz der Veränderung.
Er sah die Änderungen nicht. Er fühlte sie. Die Quelle des neuen Signals blieb im Dunkel der Straße verborgen. Von einem unsichtbaren Magneten angezogen, begann er, diesem Signal zu folgen, denn er fühlte sich zu etwas hingezogen, während er zugleich das Nutzlose hinter sich ließ. Unvermittelt registrierte er den Schatten einer Frau, die soeben ihre Zigarette im Schutze eines Hauseinganges zu Ende rauchte. Gedämpftes Licht strich aus der angelehnten Haustür an ihr vorbei.
Neugierig schaute er im Vorbeigehen zu ihr auf: so groß wie er, braune Haare, braune Augen, grazil und nach Außen so unendlich zerbrechlich, aber mit der Stärke, einen umherirrenden Menschen zu halten.
Ohne Worte, aber mit einem verständnisvollen Lächeln öffnete sie die Türe, reichte dem durchnässten Musiker ihre Hand und führte ihn sanft - ganz sanft - als ob sie ein Kind leitete, in die Wärme ihres Zimmers.
Ihre Umarmungen wärmten ihn, als sie ihn auf ihrem Sofa in die Arme nahm. Sie zog ohne zu fragen, mit stillem Einverständnis, seine imaginäre Maske vom Gesicht und sah ihn verständnisvoll an. Er kam zur Ruhe.
In ihren Armen konnte er wieder weinen.
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